Ingelheim zur Zeit der Haderbücher (1387-1534) – Ein Überblick

Die Ursprünge - Ingelheimer Reich

Die Wurzeln Ingelheims reichen weit zurück. Bereits in vorrömischer Zeit war das Gebiet besiedelt. Im frühen Mittelalter wurde das Land erst zu einem fränkischen, dann zu einem karolingischen Königsgut. Die Dörfer Nieder- und Ober-Ingelheim entstanden.

Zu Anfang des 8. Jahrhunderts wurde in Nieder-Ingelheim eine Königspfalz errichtet. Unter Karl dem Großen (768-814) und - mehr noch - unter seinem Sohn Ludwig dem Frommen (814-840) und unter den Ottonen (936-1024) wurde die Ingelheimer Pfalz zum Schauplatz wichtiger europäischer Ereignisse, von Reichsversammlungen, Hoftagen, Synoden und Osterfesten. Viele Urkunden bezeugen Regierungshandeln in Ingelheim. Diese Zeit häufiger Königsbesuche in Nieder-Ingelheim (Königshof bei der Remigiuskirche und Palatium) ging Mitte des 11. Jahrhunderts zu Ende. Das letzte Reichsfest, die Hochzeit Heinrichs III. (1039-1056) mit Agnes von Poitou (1024-1077), wurde im November des Jahres 1043 in Ingelheim gefeiert. Ein letztes Ereignis von reichsgeschichtlicher Bedeutung fand in Ingelheim am 31. Dezember 1105 statt. Auf Veranlassung einer Fürstenopposition wurde König Heinrich IV. (1056-1105) abgesetzt und wenig später sein Sohn Heinrich V. (1106-1125) in Mainz zum Deutschen König gewählt.

 

Das Reichsland um die Königspfalz war im Spätmittelalter ein in sich geschlossener Verfassungs-, Verwaltungs- und Finanzbezirk. Zum Ingelheimer Reich gehörten damals neben den Hauptorten Ober- und Nieder-Ingelheim sowie (Groß-)Winternheim auch die Reichsdörfer Frei-Weinheim, Bubenheim, Elsheim, Wackernheim und (Sauer-)Schwabenheim. Die Bewohner des Königslandes unterstanden unmittelbar dem König. Sie waren persönlich frei und mussten, wenn sie Jahr und Tag im Reichsland wohnten, keiner auswärtigen Herrschaft zu Gebote stehen. Sie waren allein dem König und dem Reich zur Gewährung bestimmter Dienstleistungen und zur Zahlung von Steuern verpflichtet. Streitigkeiten wurden vor dem Ingelheimer Reichsgericht geschlichtet.

Verpfändung an Kurpfalz

Vielleicht schon zur Zeit der späteren Salier, mit Sicherheit aber unter den Staufern (1125-1250) wurde die Pfalz in eine (um den Zuckerberg vergrößerte) Burganlage umgebaut, in der Burgmannen siedelten. Der Bedeutungsverlust Ingelheims führte dazu, dass König Ludwig der Bayer (1314-1347) am 16. Januar 1315 den Ingelheimer Reichsbesitz an den Mainzer Erzbischof Peter von Aspelt (1306-1320) verpfändete. Damals hatte sich das politische Zentrum bereits von Nieder-Ingelheim zum ummauerten Ober-Ingelheim hin verschoben, u. a. auch deshalb, weil dort zahlreiche Ritter- und Ministerialenfamilien ihren Lebensmittelpunkt gefunden hatten. 1353 gab Erzbischof Gerlach von Mainz den Ingelheimer Pfandbesitz zurück (Erler, Ältere Urteile III, S.301). Daraufhin stiftete Kaiser Karl IV. (1346-1378) in der ehemaligen Kaiserpfalz in Nieder-Ingelheim am 14. Januar 1354 ein Augustiner-Chorherrenstift, das sog. Karlsmünster (⇒ Vigener).

Doch wenig später, am 24. Dezember 1356, lieh sich der Kaiser 33.000 kleine Florentiner Gulden bei der Stadt Mainz und verpfändete ihr dafür das Ingelheimer Reiches (mit Oppenheim, Odernheim, Schwabsburg und Nierstein) und andere zugehörige Dörfer, »so wie das Erzstift Mainz dies vormals bessen hatte« (⇒ Regesta Imperii). Doch die Stadt Mainz hatte das Pfand nicht lange inne. Denn am 12. Februar 1375 verpfändete Kaiser Karl IV. (1346-1378) das gesamte Ingelheimer Reichsgebiet, ebenso die Reichsstadt Oppenheim sowie die Orte Nierstein, Dexheim und Schwabsburg an den pfälzischen Kurfürsten Ruprecht I. (1329-1390).(⇒ Frank, Oppenheim Nr. 116) Am 7. Mai 1376 huldigten Schultheiß und Schöffen der zugehörigen Gemeinden auf Geheiß des Kaisers dem Pfalzgrafen Ruprecht I. (⇒ Koch/Wille).

Mit der Verpfändung an Kurpfalz erlosch die Reichsunmittelbarkeit des alten Reichslandes. Aus dem «Ingelheimer Reich« wurde der »Ingelheimer Grund«. Kaiser und Reich sollte es nie mehr gelingen, die Pfandschaft auszulösen.

Gerichtswesen im »Ingelheimer Grund«

Den betroffenen Bewohnern des Gebietes gelang es, ihre alten vom Königtum gewährten und immer wieder bestätigten Privilegien gegenüber den kurpfälzischen Pfandherren zu behaupten. Kurz nach dem Beginn der pfalzgräflichen Pfandherrschaft setzte 1377 die Überlieferung des heute verlorenen »Großen Kopiars des Ingelheimer Gerichts« und spätestens 1387 die Niederschrift des ersten Haderbuches ein. König Wenzel (1378-1400) bestätigte den Ingelheimer Reichsleuten am 19. Januar 1398 die Rechte der Friedberger Burgmannen (Lörsch, Oberhof S. LXV). Am 27. Juli 1402 erhielten die Bewohner des nun Ingelheimer Sal genannten alten Burgareals in Nieder-Ingelheim die gleichen Rechte wie die Bewohner von Nieder-Ingelheim (⇒ Regesta Imperii, Regesten Pfalzgrafen 2, Nr. 2405).

Zu den aus der früheren Reichsunmittelbarkeit herrührenden Rechten gehörte auch eine eigene Gerichtsbarkeit.

Das Ingelheimer Reichsgericht (imperiale judicium) hatte sich um die Mitte des 14. Jahrhunderts gebildet. Unter der Leitung der Ortsschultheißen verhandelte ein Schöffengremium Streitigkeiten, die im reichsunmittelbaren Gebiet des Ingelheimer Reiches, im Bereich der Kaiserpfalz und des dortigen Reichsgutes entstanden. [Vgl. dazu vor allem die Arbeiten von Hugo Lörsch, Adalbert Erler und Alexander Krey] Das Schöffenkollegium setzte sich aus Vertretern des Adels und der Bürger- bzw. Handwerkerschaft zusammen. Die Schöffen wurden mittels eines Schöffeneids an ihr Amt gebunden. Das Siegel dieses Gerichtes mit dem Reichsadler und der Umschrift Sigillum scultetorum et scabinorum imperialis iudicii in Ingelheim fasst dieses Zusammenwirken von Schultheiß und Schöffen unter dem Schirm des Reiches auch bildlich zusammen. Als Reichsgericht war es zunächst für das Strafrecht zuständig und dann als »Gericht der belegenen Sache« für Grundstücksangelegenheit und bewegliche Sachen (Fahrnis).

Wenn das Gericht als sog. »Oberhof« zusammenkam, verhandelte es nicht nur grundlegende Rechtsfragen innerhalb des Ingelheimer Reiches bzw. des Ingelheimer Grundes, sondern fungierte vor allem als Gerichtsinstanz, bei der die umliegenden kleinen Ortsgerichte (Schöffenstühle) Rechtsauskünfte einholen konnten. Der Ingelheimer Oberhof war einer der bedeutendsten Oberhöfe des mittel- und niederrheinischen Raumes. Da der Oberhof nicht an territoriale und herrschaftliche Grenzen gebunden war, ließen sich im 15. Jahrhundert bis zu 70 Schöffenstühle in Rechtsfragen vom Ingelheimer Oberhof beraten. Sein Einflussbereich reichte dabei im Norden bis nach Wellmich bei St. Goarshausen, im Osten bis nach Kostheim bei Mainz, im Süden bis nach Flonheim und im Westen bis nach Rhaunen im Hunsrück. Sogar die Reichstadt Friedberg in der Wetterau suchte in Ingelheim um Rechtsauskunft nach.

Die Schultheißen und Schöffen des Reichsgerichtes traten aber auch als Ortsgerichte der drei Dörfer Nieder- und Ober-Ingelheim sowie (Groß-)Winternheim zusammen. Den Vorsitz führte immer der Schultheiß des Ortes, in dem das Gericht tagte. Die Ortsgerichte waren für Hader, Zank und Streit in den Dörfern und für zivilrechtliche Angelegenheiten zuständig. Die Mitschriften dieser Verhandlungen sind in den »Ingelheimer Haderbüchern« überliefert. Auf eine gewisse Selbstständigkeit dieser einzelnen Ortsgerichte lässt die Tatsache schließen, dass getrennte Haderbücher für die Hauptorte geführt wurden. Allerdings war der Schreiber mit seinen Gehilfen sowohl für das Reichsgericht als auch für alle Ortsgerichte zuständig.

Das Ingelheimer Reichsgericht verfügte ursprünglich über die Hochgerichtsbarkeit. Dies änderte sich im Zuge der Verpfändung an Kurpfalz. In pfalzgräflicher Zeit stand dem Gericht die Blutgerichtsbarkeit nicht zu. Für Totschlag, Mord und Vergehen, die Leibesstrafen, Folter oder gar den Tod nach sich ziehen konnten, war nach 1374 das pfalzgräfliche Hofgericht in Heidelberg zuständig. Das Heidelberger Hofgericht fungierte ab einem gewissen Streitwert auch als Appellationsinstanz für die einzelnen Ortsgerichte.
Eine überörtliche Rechtspflege im Ingelheimer Reich wurde auch von dem »Ungebotenen Ding« wahrgenommen. An drei Terminen im Jahr wurde das Gericht, bestehend aus Vorsitzern und Schöffen, einberufen. Alle Reichsleute hatten zu erscheinen. Der Gerichtsschreiber verlas das Weistum, anschließend wurden vorgebrachte Rügen angehört und verhandelt.

Ingelheim bleibt kurpfälzisch

Die Überlassung der Reichsdörfer an den Pfalzgrafen hatte an den rechtlichen Verhältnissen in Ingelheim vorerst wenig geändert. Dem Reichsgericht war es gelungen, seine Eigenständigkeit gegenüber dem Pfandherren weitgehend zu behaupten. Doch zwischen Rittern und Ministerialen, die einst dem Reich gedient hatten, und den Ingelheimer Bürgern entbrannten heftige Konkurrenzkämpfe um die Besetzung der Schöffenstühle. Die Auseinandersetzungen zwischen adligen und nichtadeligen Schöffen waren in der Zeit zwischen 1387 und 1534, den Jahren also, aus denen die Ingelheimer Haderbücher erhalten sind, im vollen Gange und bestimmten lange Zeit grundlegende Elemente des sozialen Lebens in den beiden Ingelheim. [Siehe dazu Schäfer, Gefüge]

Als im Jahr 1400 Pfalzgraf Ruprecht selbst König wurde, rückte eine durchaus mögliche Auslösung in noch weitere Ferne. Am 23. August 1402 lieh sich König Ruprecht bei seinem Sohn Pfalzgraf Ludwig 100.000 rheinische Gulden und stellte ihm als Sicherheit den bereits an Kurpfalz verpfändeten Ingelheimer Grund, Oppenheim, Odernheim, Schwabsburg und Nierstein sowie die Stadt Kaiserslautern [⇒ Koch/Wille]. Die Pfandsumme wurde damit noch weiter erhöht. Die auf altem Herkommen beruhenden Rechte, Freiheiten und Privilegien des Ingelheimer Grundes wurden vom König und dem kurpfälzischen Pfandherrn ausdrücklich bestätigt [Marzi, allerhand irrungen S.20]. Obwohl offiziell noch dem Reich zugehörig, unterstanden Land und Leute de facto dem Pfalzgrafen als Pfandherrn, kamen Abgaben und Dienstleistungen dem Pfalzgrafen zugute.

Am 20. Januar 1488 wurde der spätere Kosmograph und Humanist Sebastian Münster († 26.5.1552) in Nieder-Ingelheim geboren. In seinem Hauptwerk der »Cosmographia – Beschreibung aller Lender« geht Münster S. 415ff. auch auf Stationen der Geschichte Ingelheims ein.

Die Pfalzgrafen bestätigten immer wieder den rechtlichen Sonderstatus des Ingelheimer Grundes. Der mit der Verwaltung dieses Bereiches beauftragte pfälzische Amtmann (in Oppenheim) musste, bevor er sein Amt antreten konnte, den Ingelheimer Ortsschultheißen »von Reichs wegen« geloben, die Privilegien des Ingelheimer Grundes und seiner Bewohner zu beachten und sie nicht zu schmälern.

In der Zeit, als die Bedeutung des Gerichtsstandortes Ingelheim sank, endete mit dem Jahr 1534 auch die Überlieferung der Ingelheimer Haderbücher. Wenig später (1556) führte Kurfürst Ottheinrich (1556-1559) die Reformation in der Pfalzgrafschaft ein. Als 1648 im Westfälischen Frieden die Unablösbarkeit der Reichspfandschaften beschlossen wurde, ging das ehemalige Reichsgebiet in Ingelheim endgültig in der Pfalzgrafschaft auf.

 Die Herausgeber bedanken sich bei Herrn Hartmut Geissler (Ingelheim), der wichtige Hinweise zum vorstehenden Texte beisteuerte.

Literaturhinweis

  • Geißler, Hartmut u. Regina Schäfer: Der Ingelheimer Grund zur Zeit der Haderbücher (14.-16. Jahrhundert). In: Franz. J. Felten u.a. (Hg.): Die Ingelheimer Haderbücher. Mittelalterliches Prozessschriftgut und seine Auswertungsmöglichkeiten. (BIG.50). Ingelheim 2010, S. 169-196.
  • Zum Ingelheimer Gericht zuletzt ausführlich Regina Schäfer, Rechtsprechung (2014) S. 159ff. Hier auch der Nachweis der älteren Literatur zum Thema. Weitere Hinweise können dem Literaturverzeichnis entnommen werden.
  • Historischer Verein Ingelheim
  • Ingelheim bei regionalgeschichte.net
  • Kaiserpfalz Ingelheim
  • Artikel in der Wikipedia